Die verlorene Zeit als Kunstwerk

Proust belässt keinen Gegenstand, den er beschreibt, in seiner gewohnten Erscheinung. Er zerlegt, baut wieder auf und dekonstruiert. Proust korrigiert die Realität, weil er sie entdeckt. Adorno wiederum entdeckt bei Proust die Möglichkeit einer Utopie aufgrund seiner »schrankenlosen Leidensfähigkeit«. Erinnerung wird in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu einem Präzisionsinstrument der Erkenntnis und erweitert damit die Möglichkeiten des kritischen Denkens. Das schlechtgewordene Dasein liegt bei Proust im Detail. Sein Totalitätsanspruch der Kunst wird als Alternative zum unwahren Leben formuliert. Jean-Paul Sartre warf Proust das Fehlen der Dimension der Zukunft und der Freiheit vor. Doch Proust war schlauer als Sartre: Sein Werk täuscht keine Hoffnung vor, die die Realität nicht enthält. Gerade deshalb erweist sich sein Kunstwerk als schärfstes Instrument der Gesellschaftskritik: Es antizipiert den sinnlosen Zustand einer Welt, deren zerstörerischer Höhepunkt erst nach dem Kunstwerk stattfand. Wie Benjamins Passagenwerk beschreibt Auf der Suche nach der verlorenen Zeit das Ende des neunzehnten Jahrhunderts und entdeckt die mythischen Bilder der Moderne, um eine Welt zu entzaubern, die dem Warenfetisch huldigt: »Demütig hat er um die Gunst von Stockreaktionären wie Gaston Calmette und Léon Daudet geworben: aber einer der an gewissen Tagen das Monokel trug, hieß Karl Marx« (Adorno). Gilles Deleuze analysiert bei Proust dessen Wahrheitssuche im Gesellschaftlichen und bescheinigt dem Dichter etwas, was der Philosoph nicht mehr könne: die Durchdringung der Wirklichkeit. Ob Proust mit seinem Kunstwerk das Reale produziert und, wie Deleuze behauptet, sich »die Kunst als letztendliches Ziel des Lebens, welches das Leben selbst nicht verwirklichen kann«, erweist, soll in diesem Vortrag untersucht werden. Die Darstellung der Dreyfus-Affäre in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit dient als Grundlage für diese Untersuchung. Proust-Philologie wird nicht betrieben