Algerien - Eine zweite Unabhängigkeit?

Seit dem 22. Februar 2019 ist Algerien in eine neue Phase seiner Geschichte eingetreten. Die friedliche und entschlossene Mobilisierung der Bevölkerung gegen das seit der Unabhängigkeit von 1962 bestehende Regime kündet von einer Revolution, verkörpert in der sozialen Bewegung Hirak. Das Land erwirtschaftet seinen Reichtum allein durch seine Erdölressourcen. Dieses Systems basiert auf einem neopatrimonialen Staat und auf einer Ökonomie, die hauptsächlich einer weltweit verbundenen Oligarchie dient. Diese geschäftstüchtige Bourgeoisie, entstan den im Umfeld des Staatsapparates, ist nur verlässlich in ihren Verbindungen zum Weltmarkt. Sie hält sich an der Macht dank ihrer Kontrolle des Militärs und eines Illusionen basierenden Sozialpaktes der Umverteilung, der heute an seine Grenzen stößt. Welche neuen Perspektiven eröffnet Hirak? In wie weit verweist Hirak auf eine sich verändernde Zivilgesellschaft und kündet von einem neuen Algerien? Vielleicht einer zweiten Unabhängigkeit?

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Grußwort von Saïd Belguidoum (Soziologe an der Université d’Aix Marseille, Forscher am Institut de recherches et d'études sur le monde arabe et musulman Aix-Marseille und am Centre de recherches en Anthropologie sociale et culturelle in Oran/Algerien)

„Zunächst möchte ich mich bei der jour fixe initiative für dieses Forum bedanken. Es ist eine schöne Gelegenheit, die großartige internationale Solidarität auszudrücken, die alle Bevölkerungen vereint gegenüber der Globalisierung des Kapitals und ihren entsprechenden Herrschaftssystemen. Mit meinem Beitrag zu Algerien versuche zu erläutern, wie neue Kampfformen und breite Mobilisierungen entstehen. Ich bin davon überzeugt, dass die Wirkungskraft dieser Kämpfe durch die notwendige Kenntnis unserer Gesellschaften und der Natur der Machtverhältnisse bedingt ist. Die Oligarchie zu kennen, um sie effektiver zu bekämpfen, ist ein Imperativ für den algerischen Hirak und kann auch anderweitig von Nutzen sein.“

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Der Vortragstext

Der Hirak und die Krise des neopatrimonialen Systems in Algerien.  Auf dem Weg zu einer zweiten Unabhängigkeit?

Seit dem 22. Februar 2019 ist Algerien in eine neue Phase seiner Geschichte eingetreten. Die massive, pazifistische und entschlossene Mobilisierung der Bevölkerung gegen das seit der Unabhängigkeit 1962 bestehende Regime kündet von einer Revolution, verkörpert in der sozialen Bewegung Hirak („die Bewegung“).

Ein Land mit 43 Millionen Einwohnerinnen, dessen Reichtum allein aus Erdölressourcen besteht (35 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes, 75 Prozent seiner Steuereinnahmen und 97 Prozent seiner Exporterlöse), wird von einem neopatrimonialen System und einer Rentenökonomie regiert, die allein einer mächtigen Oligarchie zugute kommt, die weltweit mit multinationalen Konzernen vernetzt ist. Heute weist alles darauf hin, dass das Regime an sein Ende gelangt ist. Der Hirak zeigt eine sich grundlegend wandelnde Gesellschaft und kündet von einem neuen Algerien.

Mein Beitrag schlägt eine Lesart der algerischen Gesellschaft vor, die die Krise des neopatrimonialen Staates und des Sozialpaktes analysiert, auf dem sie beruht. Ausgehend davon möchte ich zeigen, wie die soziale Umverteilung auf einer Fiktion gründet, die es ermöglicht eine Klientelwirtschaft zu erhalten, die nur einer Oligarchie nutzt. Wie ist das Kräfteverhältnis zwischen dem Hirak und der aktuellen Herrschaft? Welche neuen Perspektiven eröffnet der Hirak?

Hirak ist ein Aufstand, der auf Gesellschaftsveränderung verweist

Die ersten Demonstrationen vom 22. Februar 2019 mit Zehntausenden, die den Repressionsapparat herausforderten und die „Mauer der Angst“ durchbrachen, eröffneten  den Möglichkeitsraum für eine starke Widerstandsbewegung mit wöchentlichen Demonstrationen, jeweils am Freitag (die gesamte Bevölkerung) und am Dienstag (die Studentinnen). Diese wöchentlichen Demonstrationen versammelten Hunderttausende und brachten im Frühjahr 2019 mehrere Millionen Demonstranten in ganz Algerien auf die Straßen. Zunächst wandten sie sich gegen ein fünftes Mandat, für das sich Präsident Bouteflika bewerben wollte,  formulierten dann schnell eine radikale Infragestellung des seit Jahrzehnten herrschenden Regimes sowie seines autoritären und nespotischen Charakters und forderten eine neue Republik, einen Rechtsstaat und soziale Gerechtigkeit.

Diese gewaltige spontane Welle ist das Ergebnis der Erbitterung über die Widersprüche einer Gesellschaft, die unter der Herrschaft einer immer arroganter werdenden Oligarchie lebt.

Nach dem schwarzen Jahrzehnt (dem islamistischen Aufstand von 1990-2000) und dem darauf folgenden starken ökonomischen Aufstieg dank der günstigen Konjunktur des Erdölmarktes, von dem die algerische Ökonomie abhängt, geriet das Land in eine latente, aber tiefe Krise.

Seit 2011 und dem arabischen Frühling wurde auf die algerische Revolte gewartet. Die Erneuerung eines vierten Mandats 2014 für Präsident Bouteflika, der seit 1999 auf seinem Posten ist, bewies, dass die Macht keine Alternative hatte und das politische System geschwächt war. Die soziale Frage, die durch den Rückgang des Ölpreises (dem Barometer der algerischen Ökonomie und der politischen Stabilität) wieder in den Vordergrund trat, die fehlenden Arbeitsplätze, die ständigen Spannungen um ausreichenden Wohnraum, die regelmäßig von der Presse berichteten Korruptionsaffären, eine omnipotente Bürokratie und die Aufrechterhaltung des Alltags eines Systems der Hogra (ein umgangssprachlicher Ausdruck für die Verachtung der Reichen und Mächtigen gegenüber der Bevölkerung),  verwiesen auf eine explosive Situation.

Die Vorzeichen nahmen seit einigen Jahren in den unterschiedlichen Wirtschaftszweigen zu (soziale Bewegungen einzelner Berufsgruppen, Arbeitslosenbewegung), oder auch in ganzen Regionen (in der Kabylei, im Süden des Landes). Alles wies darauf hin, dass das Land kurz vor einer Zäsur steht. Aber es war schwierig vorauszusehen, dass eine Bewegung solchen Ausmaßes und mit solcher Entschlossenheit entstehen und sich dauerhaft bewähren würde. Ein Beweis, dass die verdeckte Krise ihren Höhepunkt erreicht hat. An den Rändern und unbeachteten Orten der Gesellschaft fand eine tiefgreifende Evolution statt, die neue Dynamiken entfaltet. Zurzeit vollzieht sich ein Riss zwischen den Generationen, der von einer neuen historischen Zeitlichkeit kündet, der soziale Gruppen voranstellt, die einen neuen Sozialpakt und eine neue Gesellschaft fordern.

Eine gesellschaftliche Krise und die Macht des Symbolischen: die zwei Körper des Königs

Bouteflika kam 1999 an die Regierung, nachdem er die Unterstützung des Militärs erlangt hatte, das die reale Macht in Algerien darstellt. Seine erste Mission bestand darin, ein nationales Versöhnungsgesetz abstimmen zu lassen, um den bewaffneten islamistischen Aufstand zu beenden, der seit 10 Jahren das Land paralysierte (das schwarze Jahrzehnt).

Bouteflika war ein omnipotenter und omnipräsenter Präsident, ein sehr guter Redner mit starkem Charisma, der ein Monarch sein wollte und sich unter diesem Titel mit Algerien identifizierte. Während der zwei ersten Mandate setzte er eine gewisse Stabilität durch, indem er vom Wirtschaftswachstum profitierte, das auf dem hohen Ölpreis basierte sowie von den Auswirkungen der sozialen Umverteilung, die hiermit zusammenhing. Aber seine Allmacht wurde im April 2013 brutal durch ein Herz-Kreislauf-Versagen gestoppt, einige Monate vor den Präsidentschaftswahlen, die ihm ein viertes Mandat bescheren sollten. Zur großen Überraschung wurde seine Kandidatur aufrecht erhalten, obwohl seine Invalidität deutlich erkennbar war und seine wenigen Auftritte deutlich machten, dass er seine Funktionen nicht mehr ausüben konnte.

Die Entscheidung der leitenden Sphären (das Militär, die Parteien der Mehrheit) für ein viertes Mandat drückt eine symptomatische Verachtung für die Bevölkerung aus und einen provisorischen Status Quo, der sich im Inneren einer undurchdringlichen Macht etabliert, die von schweren internen Kämpfen erschüttert ist. Ein physisch lebendiger Bouteflika erlaubt, die Frage seines Nachfolgers zu verschieben. Aber für diese Unfähigkeit der Herrschenden ist bezeichnend, die Macht des Symbolischen in einer Gesellschaft zu unterschätzen, in der das Bedürfnis nach Orientierung sich umso stärker Ausdruck verleiht, weil das Unbehagen tief sitzt. Mit einem untauglichen Präsidenten agieren die Herrschenden wie erbärmliche Drehbuchschreiber einer schlechten Tragikkomödie.

Der charismatische und omnipräsente Monarch, der Algerien verkörperte, ist zu einem kranken Menschen geworden, einem Gefangenen seines Körpers, einer Marionette in den Händen der eigentlichen Entscheider, die im Dunkeln agieren. Der allmächtige Präsident ist zum ohnmächtigen, gelähmten Präsidenten geworden, der sich nur noch selten im Rollstuhl zeigt, der seinen Thron ersetzen soll. Der kranke Monarch symbolisiert nicht mehr die Allmacht eines Staates, sondern ein moribundes Regime.

Die Ankündigung eines fünften Mandates wird zum Ausgangspunkt einer mächtigen Protestbewegung gegen das gesamte System. Die Mobilisierung, zunächst Ausdruck einer allgemeinen Empörung, verwandelt sich in einen starken Aufstand der Bevölkerung, der auf eine grundlegende gesellschaftliche Krise verweist, gleichermaßen ökonomisch, sozial, politisch, moralisch und symbolisch.

Der neopatrimoniale Staat und der Sozialpakt der Rentenökonomie Die Grundlagen des neopatrimonialen Staates: die Rentenökonomie und der antikoloniale Nationalismus

Um die aktuelle Situation in Algerien zu verstehen, muss auf die neopatrimoniale Natur des Staates eingegangen werden. Sie ist das Resultat einer Kombination aus einem bürokratischen System mit seinen einem modernen Staat entsprechenden Institutionen und einem patrimonialen System, das auf Klientelwirtschaft und einer Treuepflicht gegenüber der Macht basiert, die unberechtigte Vergünstigungen erlaubt, vor allem in Bezug auf die Kontrolle der ökonomischen Ressourcen. Ein derartiges System pflegt eine permanente Konfusion zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich und beruht auf der Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Politik und Ökonomie. Eine der Besonderheiten dieses Systems ist die Fähigkeit, sich eine Klientel auf verschiedenen Ebenen und damit eine soziale Basis aus verschiedenen sozialen Gruppen zu verschaffen, die ihm etwas schuldig sind. Darauf basiert der Sozialpakt der Rentenökonomie.

Dieser Sozialpakt zieht seine Legitimität aus der nationalen Befreiungsbewegung (FLN) und der Deklaration des 1. November 1954, die im nationalen kollektiven Gedächtnis als Gründungsakt des neuen Algerien hochstilisiert wurde. Auf der Basis des Antikolonialismus beruht der Sozialpakt auf Souveränität und der Aneignung der Reichtümer des Landes, die die Kolonialmacht lange Zeit für sich in Anspruch genommen hatte. Die Legitimität der Staatsmacht, Erbe des nationalen Befreiungskrieges, beruht also auf dieser Verpflichtung, die Entwicklung des Landes durch den Erhalt des nationalen Reichtums zugunsten der gesamten Bevölkerung zu organisieren.

Der gesamte Einsatz des neopatrimonialen Staates besteht darin, sein Monopol auf die Geschichte und den Befreiungskrieg zu behaupten, das er als politische und symbolische Rente nutzt, um die ökonomische Rente, die Nutzung des Erdöls, zu kontrollieren.

Die FLN (Nationale Befreiungsfront), zunächst eine Einheitspartei, dann nach der Zulassung mehrerer Parteien 1990 die wichtigste Kraft der präsidialen Mehrheit, gewährleistet die Verwaltung dieser politischen Rente, der Grundlage eines Sozialpaktes, der wiederum auf einem Rentensozialpakt basiert.

Das neopatrimoniale System stützt sich auf Einflussnetzwerke und Bündnisse auf der Grundlage persönlicher Beziehungen und Treuepflicht. Verschiedene Klienteln und Clans bilden so ein soziales Kapital, das sich in eine politische und ökonomische Macht verwandelt hat. Die herrschenden Akteure (die Staatsbourgeoisie, die Oligarchen und Geschäftsleute, hohe Beamte...) haben Anteil an einem beständigen Netzwerk mehr oder weniger institutionalisierter Beziehungen, bilden Interessensgruppen, deren Mitglieder durch dauerhafte und nützliche Verbindungen geeint sind. Der Umfang des sozialen Kapitals eines bestimmten Akteurs hängt vom Ausmaß des Beziehungsnetzwerkes ab, das er innerhalb des Staatsapparates (der Verwaltung und dem Militär) mobilisieren kann, und vom Ausmaß anderer Kapitale (durch Beziehungen, politisch und ökonomisch), die er besitzt und mit denen er verbunden ist. Darin besteht die Stärke des Systems, die die Herausbildung einer Oligarchie ermöglichte, zusammengesetzt aus Eingeweihten, die sich unter der Protektion der staatlichen Institutionen durch Erhalt von Vorteilen (öffentliche Märkte, Bankkredite, Importerlaubnis und Devisentransfert, Gründung von Unternehmen...) entwickelte. In den 20 Jahren Herrschaft von Präsident Bouteflika haben diese neuen Kapitalisten von ihrer Monopolposition, verbunden mit den durch das politische System verliehenen Vorteilen profitiert, um das Kommando über die Ökonomie zu übernehmen.

Das auf die Spitze getriebene bürokratische Klientelsystem organisiert und verteilt Stellen und Privilegien in der Wirtschaft und lässt dabei ganze informelle Strukturen entstehen, die einem unkontrollierten Kapitalismus eigen sind. Darin besteht das Paradox einer Gesellschaft, deren Ökonomie zwischen einem entfesselten laisser-faire in verschiedenen Bereichen des ökonomischen und gesellschaftlichen Lebens schwankt (vor allem dem Vertrieb und dem Einzelhandel) und einer omnipräsenten Bürokratie, die zum Rückgriff auf Klientelwirtschaft verpflichtet.

Neopatrimonalismus und Oligarchie Den Aufstieg der Oligarchie kann nur im allgemeinen Kontext dieses Landes und der entscheidenden Rolle des Staates seit der Unabhängigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen verstanden werden. In den Jahren nach der Unabhängigkeit (1962-1979) beruhte die gewählte Entwicklungsoption auf einer verwalteten Ökonomie, in der der omnipräsente Staat gleichermaßen regulativ tätig und Hauptakteur der Ökonomie war.

Mittels seiner voluntaristischen und interventionistischen Politik, seiner Regulierung und Bürokratie, war es der Staat, der Anstöße gab und die wichtigen Transformationen vornahm, die die algerische Gesellschaft erlebte. Privatinitiativen standen lange nur am Rand der öffentlichen Politik. Die Jahre von Boumedienne (1965-1979) erlebten den Triumph der von der Befreiungsbewegung geerbten Entwicklungsideologie, die davon ausging, dass die Entwicklung Sache des Staates sei, dem Dirigenten und Projektleiter der Ökonomie. In dieser Zeit wurden die Grundlagen des neopatrimonialen Staates geschaffen, die sich auf eine aufgrund der großen Ölvorkommen möglich gewordene Umverteilungspolitik stützten. Als Staatskapitalismus  installiert das Regime die bevorzugten Werkzeuge für die öffentliche Ordnung: Verstaatlichungen, Planwirtschaft und wichtige Infrastrukturprojekte, eine Landreform, ein großes Industrialisierungsprogramm. Diese Phase des Staatskapitalismus wird in den Neunzigerjahren von einer partiellen Liberalisierung der Ökonomie ersetzt, ohne dass dabei die Zugriffe der verwalteten Ökonomie aufgehoben wurden. Die großen Ziele der industriellen Entwicklung werden aufgegeben, und Algerien greift mehr und mehr massiv auf den Weltmarkt der Investitions- und Konsumgüter zurück. Die Arbeitsstruktur von heute ist die Konsequenz dieser Entscheidung: der Dienstleistungsbereich nimmt 61 Prozent ein, der Bausektor 18 Prozent, Industrie und Landwirtschaft repräsentieren jeweils 12,5 und 8,5 Prozent.

Der Staat transferiert parallel seine monopolistischen Befugnisse an private Gruppen, überlässt ihnen Importmärkte für eine bestimmte Anzahl von Waren, wie Grundnahrungsmittel (Weizen, Öl, Zucker, Kaffee), Medikamente, Baumaterial und industrielle Ausstattung. In diesem Kontext entwickelte sich die Privatwirtschaft in Algerien. Seit der ökonomischen Öffnung in vollem Aufstieg begriffen (76 Prozent dieser Unternehmen wurden zwischen 2000 und 2011 gegründet), repräsentiert sie 98 Prozent der wirtschaftlichen Einheiten und verfügt über 73,2 Prozent der arbeitenden Bevölkerung (ausgenommen die Landwirtschaft, die Verwaltung und der Bildungsbereich), das bedeutet 60 Prozent aller Lohnabhängigen.

Hauptsächlich handelt es sich um kleine Einheiten und eine schwache kapitalistische Struktur, die auf eine sofortige Ertragskraft setzen. Allerdings sind große individuelle Unternehmerfiguren aufgetaucht. Große Gruppen erlangten öffentliche Anerkennung: CEVITAL (ein Konsortium von um die hundert Unternehmen, vom Großhandel zum Maschinenbau und Haushaltswaren, darunter die 2014 aufgekaufte Marke Fagor-Brandt), Condor (Fernsehgeräte und Mobiltelefone), die Gruppe Kouninef (Ölbohrungen, Baugewerbe, Agrarwirtschaft), ETRHB (Tiefbau und Wohnungsbauförderung, Lebensmittel- und Chemieindustrie), BIOPHARM (Pharmaindustrie), um nur die bekanntesten zu erwähnen. Das 2000 gegründete Unternehmerforum, die algerische Arbeitgeberorganisation, markiert eine weitere Etappe in der Strukturierung der Oligarchie als soziale Klasse. Die regelmäßigen öffentlichen Stellungnahmen des Präsidenten des Forums und sein offenes Engagement in der Verwaltung der wirtschaftlichen Angelegenheiten (er steht dem Bouteflika-Clan nahe) illustrieren klar und deutlich den Aufstieg der Oligarchen unter Vormundschaft des neopatrimonialen Staates.

Die Entwicklungsphase Algeriens in den Siebzigerjahren ermöglichte den Neopatrimonalismus. Die liberale Phase ermöglichte ihm, sich zu entfalten und eine Oligarchie, eine geschäftstüchtige Bourgeoisie entstehen zu lassen, die vom Transfer des staatlichen Monopols in ganze wirtschaftliche Bereiche profitiert (vor allem den Import der Grundnahrungsmittel und Investitionsgüter).

Diese geschäftstüchtige Bourgeoisie ist nur verlässlich in ihren Beziehungen, die sie mit dem Weltmarkt und den großen multinationalen Unternehmen unterhält, die von den großen Märkten für Investitions- und Konsumgüter profitieren, von großen Bau- und Infrastrukturprogrammen und Nutzungsrechten für Erdöl.  

Sozialpakt und Rentensozialpakt Sozialpolitik und Vorteilsnahmen: Klientelwirtschaft und Korporatismus

Das seit der Unabhängigkeit währende Regime konnte seine Verewigung und Reproduktion durch ständige Alimentierung des Rentensozialpaktes garantieren, indem es auf zwei hoheitliche staatliche Pfeiler setzte: die Sicherheits- und die Sozialpolitik. Diese ermöglichten ihm, zahlreiche Krisen zu überstehen, darunter die Krise vom Oktober 1988, das schwarze Jahrzehnt von 1990-2000, den Frühling der Berberinnen 1980 und 2001. Das Regime bewies eine beachtliche Widerstandsfähigkeit. Ausgestattet mit seinem Repressionsapparat und Gewaltmonopol zögerte es nicht, jeden Protest zu unterdrücken, und setzte dazu die Armee als Wärter des Regimes ein.

Der Sozialstaat sichert seine Funktion durch einen Pakt, dessen große Linien fest stehen und der mit der jeweiligen Wirtschafts- und Sozialpolitik verändert wird. Während der Zeit Boumediennes (1965-1979) nahm der Neopatrimonialismus die Form des Wohlfahrtstaats an. Mit einem voluntaristischen Programm von Verstaatlichungen, großen Industrialisierungsprogrammen und der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Agrarreform, einer kostenlosen Krankenversicherung, einer Verallgemeinerung der Bildung, Wohnungsbau, u. ä., die Algerien einen wichtigen Aufschwung bescherten. Es vollzog sich eine neue soziale Zusammensetzung und die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbesserten sich.

Ab den Neunzigerjahren schraubte das Regime während des islamistischen Aufstands seine Ambitionen in Bezug auf die ökonomische Entwicklung und die soziale Absicherung zurück, um auf die Auflagen des IWF einzugehen, der von Algerien eine Konjunkturerholung forderte. Es gab einen Teil seiner Vorrechte auf und privatisierte zahlreiche Unternehmen. Seine Sozialpolitik wurde selektiver, vor allem in Bezug auf die Gesundheitsversorgung und den sozialen Wohnungsbau.

Unter den Amtszeiten von Bouteflika nahm die Sozialpolitik deutlich die Form eines Klientelsystems an. Im letzten Jahrzehnt verfügte der Staat über ein durchschnittliches Jahresbudget von 65 Milliarden Dollars (7000 Milliarden Dinars), wovon 75 Prozent Steuern aus der Erdölnutzung kommen. Der Staat verteilt seine Gelder zwischen seinen Einrichtungen (1/3 des Budgets) und dem Normalbetrieb (2/3).

Die Verwaltung des staatlichen Geldsegens und seiner Verteilung lief über Vergünstigungen, die – je nach Kräfteverhältnis des Augenblicks – bestimmte soziale Gruppen prioritär behandeln  oder lange warten lassen. Das neopatrimoniale System funktioniert nach einer Bedienungstheorie und organisiert die Gesellschaft als Klientel, deren Treue oder Suche nach sozialem Frieden er aushandelt.

Der Sozialstaat agiert in den Bereichen der Arbeitsplatzbeschaffung, der Wohnungsvergabe, der Subvention von Grundnahrungsmitteln (Mehl, Kaffee, Öl, Zucker), der Gesundheitsversorgung und sozialen Absicherung, der Arbeit, der Lohnpolitik, den Renten, der Schule.

Der öffentliche Dienst macht deutlich, wie der Staat seine Rolle als großer Organisator der Gesellschaft sichert. Für eine berufstätige Bevölkerung von 12 Millionen und einer offiziellen Arbeitslosenquote von 11 Prozent (davon 25 Prozent Jugendliche), repräsentiert der öffentliche Dienst 40 Prozent (öffentlicher Dienst und staatliche Unternehmen). Es handelt sich um gesicherte Arbeitsplätze mit sozialen Rechten (Mitgliedschaft bei der Sozial- und Rentenversicherung). Sie sind der Ort der Umverteilungen und der Klientelwirtschaft. Im staatlichen Bereich zu arbeiten wird also zum „Privileg“, während die öffentliche Hand parallel dazu die Privatwirtschaft informell agieren lässt, wo die sozialen Rechte nicht existieren oder schwach ausgeprägt sind und der Status der Arbeitenden prekär ist.

Ein weiteres bedeutendes Beispiel von Sozialpolitik ist das Unterstützungsprogramm für jugendliche Arbeitslose. Das fluchtartig beschlossene Programm während des Arabischen Frühlings 2011 hatte die offensichtliche Funktion, den beginnenden Widerstand im Keim zu ersticken. Zwischen 2011 und 2016 wurden 370.000 Projekte für Jugendliche von der staatlichen Arbeitsagentur (ANSEJ) zur Gründung von Mikrounternehmen finanziert, ohne Betreuung und Weiterführung. Es gab keine Bilanzierung, und die Regierung kündigte im September 2019, inmitten des Hirak, an, dass sie auf die Rückzahlung der Darlehen verzichtet: sie tilgte auf einmal die Außenstände der Nutznießer des Programms.

Die Wohnungspolitik charakterisiert perfekt diese Politik der kleinen Vorteilsnahmen, die alle  versuchen, vom Staat zu bekommen. Als hauptsächlicher Produzent und Anweisungsbefugter des Wohnungsbaus organisiert der Staat auch seine Zuteilung. Insgesamt entstanden zwischen 2015 und 2019 1.600.000 Wohnungen, davon 50 Prozent Sozialwohnungen, 25 Prozent mit der Möglichkeit, sie als Eigentum zu erwerben und 25 Prozent zum Verkauf. Sozialwohnungen stehen ihren Berechtigten zu, und in der Tat sind heute 70 Prozent der Wohnungen in den Händen von Wohnungseigentümergemeinschaften. Die Wartelisten sind lang und die unberechtigte Bevorzugung die Regel.

Die immer aktuelle soziale Frage: die Grenzen des neopatrimonialen Staates

Die Finanzierung der Sozialpolitik wird über die Besteuerung der Erdölprodukte finanziert und der ganze Einsatz der öffentlichen Hand besteht darin, „den Rentensozialpakt“ in Schwung zu halten, um die politische Stabilität zu garantieren. Die Wette der Macht beruht auf der folgenden Gleichung: solange es etwas zu verteilen gibt, so lange das Wirtschaftswachstum eine Erhöhung des Lebensstandards erlaubt, ist die politische Stabilität gesichert und der Widerstand wird kanalisiert. Aber die Kehrseiten dieser Sozialpolitik sind zahlreich. Nach dem Ausbruch der sozialen Bewegung zeigt der neopatrimoniale Staat seine Grenzen.

So begleiten die sozialen und korporatistischen Kämpfe den algerischen Alltag. Die Sozialpolitik ist unzusammenhängend, ihre Kehrseiten sind zahlreich und lassen neue Formen sozialer und territorialer Ungleichheit entstehen. Die Arbeitslosenbewegung, die im Süden des Landes sehr aktiv ist, hat besonders deutlich gemacht, wie soziale und territoriale Ungleichheiten zusammenhängen. Die Wohnungsprogramme geben Anlass zu zahlreichen Protesten, die sich oft gewalttätig artikulieren. Die Neuentstehung der Elendsviertel an der Peripherie der Städte zeigt auch die Grenzen dieser Wohnungspolitik.

Streiks, Straßenblockaden, Aufstände begleiten den Alltag der letzten Jahre. 2010 war reich an Protesten: Forscherinnen zählten nicht weniger als 9700 Demonstrationen, die landesweit in Gewalt mündeten (das heißt 26 täglich). Wenn in den folgenden Jahren das Hilfsprogramm für jugendliche Arbeitslose (ANSEJ) und die Beschleunigung des Wohnungsbaus die Situation auch etwas beruhigte, blieben die Forderungen und das Leid der Jugend bestehen, das sich durch den Anstieg der illegalen Migration (Harraga) und in der dramatischen Dimension, die diese annimmt, ausdrückt (Behelfsboote und zahlreiche Ertrinkende, Flüchtlingslager an den Toren Europas...).

Selbst wenn diese Sozialpolitik erlauben würde, den Lebensstandard der Bevölkerung zu heben, ging die Schere zwischen arm und reich noch nie so weit auseinander, und neue soziale Brüche schwächen die Gesellschaft. Die Funktionsstörung des Sozialstaates bringt die Fiktion der Umverteilung und die Grenzen des Rentensozialpaktes ans Tageslicht.

Der neopatrimoniale Staat, der sich ewig währte, hat nur eine kurzzeitige Vision. Die Maßnahmen, die ergriffen wurden, um auf den Hirak zu reagieren, zeigen, dass die Herrschenden unfähig sind, an die Zukunft zu denken, dass sie keine neuen Projekte haben, weder politische noch ökonomische, die in der Lage wären, die Widersprüche zu überwinden, in denen das System steckt. Sie lassen die Widersprüche wachsen, die Frustration, die Ungleichheit. Heute zeigt sich, dass diese Politik ihre Grenzen erreicht hat.

Die Krise der Politik und das Ende der neopatrimonialen Hegemonie Ein autoritäres und prätorisches Regime

Mit seiner formalen und modernen Fassade funktioniert der Staat auf dem Prinzip der drei Befehlsgewalten (Exekutive, Legislative und Judikative), die alle mit konstitutionellen Befugnissen ausgestattet sind. Als Präsidialregime ermöglicht die Konzentration der Macht der Exekutive die Legislative und die Judikative zu kontrollieren. Unter den Institutionen steht die Armee im Mittelpunkt, sie ist das eigentliche Rückgrat des Staats. Sie ist mit prätorischer Macht ausgestattet und spielt seit der Unabhängigkeit eine fundamentale Rolle im algerischen politischen Leben, als Tutor und Kontrolleur der anderen Institutionen. Es liegt an ihr, in den Krisenmomenten des Systems zu schlichten und ihre Lösung autoritär, in Form von Anordnungen, Repression und Staatsstreichen durchzusetzen. Diese prätorische Macht übt die Armee aus, indem sie die Präsidenten und das politische Personal auswählt und indem sie es vermeidet, in den ersten Rang zu steigen, sondern der FLN die Verwaltung der laufenden Angelegenheiten überlässt.

Ein verriegeltes politisches Feld und ein versagendes System

Die großen Aufstände, die das System im Oktober 1989 erschütterten, haben kurz das politische Feld geöffnet und das Einparteiensystem der FLN, das seit der Unabhängigkeit in Kraft war, beendet. Aber der islamistische Aufstand, der auf die ersten Versuche der Organisation von Wahlen mit mehreren Parteien folgte, hatte eine sofortige Verriegelung des politischen Lebens zur Folge. Die Opposition war unfähig, sich als Alternative aufzustellen. Die Manipulation der politischen Parteien durch den militärischen Nachrichtendienst (DRS), die Korruption und Abwerbung erklären zum Teil die Trägheit dieser Oppositionsparteien (Demokraten und Islamisten). Aber die Gründe sind vor allem auf dem Niveau der politischen Kultur zu suchen. Die politischen Parteien begnügten sich mit einer Logik des Parteiapparates, ihr Betrieb ist dem der FLN und ihrem hegemonialen Modell angeglichen. Sie haben weder Aktivistinnen, noch Programme, die zum Bruch aufrufen. Darüber hinaus wurden sie vom Hirak überrascht, einer Bewegung, die sie nicht erahnen konnten.

Klassen- und Platzkämpfe

Gegenüber dieser Krise der Politik verausgabt sich das Regime in Clankämpfen um die Plätze an der Macht. Der neopatrimoniale Staat ist dauerhaft von Kämpfen um Einfluss zwischen verschiedenen Gruppen und Netzwerken durchdrungen, die wichtige ökonomische Interessen repräsentieren und deren Streitobjekt die Kontrolle über die Rente aus den Erdölvorkommen ist. Die Clans bilden sich und lösen sich auch wieder auf in Funktion der Posten und Positionen, die sie in den Staatsapparaten übernehmen können. Die politischen Parteien der präsidialen Mehrheit (FLN, RND) sind die Räume, in denen sich die verschiedenen Klientel organisieren und ihre Vorteile aushandeln. Der monopolistische Betrieb der Oligarchie führt zwangsweise zu internen manchmal auch gewalttätigen Auseinandersetzungen (Abrechnungen, Gefängnishaft, politische Ausschaltung, Versetzung in Rente...). Während des letzten Jahrzehnts provozierte die Aneignung der Macht durch den Clan um den Bruder des Präsidenten, der versuchte hegemonial zu werden, eine Reihe von Vergeltungsakten innerhalb des Regimes. Säuberungen in der Militärhierarchie, die Inhaftierung ehemaliger Minister und von Geschäftsleuten sind Ausdruck dieser internen Kämpfe der Oligarchie.

Von einer enttäuschten zu einer aktiven Gesellschaft

Die erste Erfahrung pluralistischer Politik mit der Annahme einer neuen Verfassung, Ergebnis der großen Aufstände vom Oktober 1988, mündete in die islamistische Revolte, was in den Augen vieler Algerierinnen die Politik disqualifiziert hat. Die Macht setzte auf die  Enttäuschung der Bevölkerung, die das schwarze Jahrzehnt miterlebte, das tiefe Traumata hinterließ. Gleichwohl begann sich die Zivilgesellschaft zu organisieren. Von ihr kommen nach und nach die Antworten, um die politische Sackgasse zu verlassen. Seit 20 Jahren entstehen zahlreiche kulturelle und soziale Assoziationen, Vereine. Unabhängige Gewerkschaften haben sich gegründet und die Hegemonie der UGTA, der Gewerkschaft, die der Macht nahe steht, in Frage gestellt. Antikorruptionsgruppen, Gruppen zur Verteidigung der Menschenrechte, die sehr stark auf Demokratie achten, motivieren die Bevölkerung, aktiv zu werden. Eine pluralistische Presse hat sich durchgesetzt, die es erlaubt, andere Informationen als die der Regierung zu erlangen. In den Winkeln der Gesellschaft wurden die letzten Jahre die Bedingungen für einen Bruch vorbereitet.

Der Generationsbruch und die Entstehung einer Zivilgesellschaft Soziologie der Bewegung

Der Hirak, Ausdruck einer entstehenden Zivilgesellschaft, ist das Resultat eines Generationsbruchs, der eine neue historische Zeitlichkeit eröffnet. Von der Jugend getragen, die demographisch mehrheitlich ist, betrifft diese Bewegung die gesamte Gesellschaft, deren soziologische Merkmale sie widerspiegelt. Eine landesweite Bewegung, die alle Regionen berührt, alle Altersklassen mobilisiert, Männer wie Frauen, Arbeiterinnen, Angestellte, die Mittelklassen bis zu leitenden Angestellten und liberalen Berufen. Die starke Präsenz von Frauen in einer noch stark patriarchal geprägten Gesellschaft ist ebenfalls bedeutend. Als gesamtgesellschaftliche Bewegung illustriert der Hirak eine sich bewegende Gesellschaft, während das politische System nicht mehr funktioniert.

Diese Transformationen der algerischen Gesellschaft äußern sich zahlreich: in den durch die Verstädterung bedingten neuen Lebensformen, der Veränderung der Familienstruktur, der Ausbreitung der Sekundarstufen im Bildungssystem und dem Zugang zum Studium, der Öffnung auf die Welt und das Internet.

Dieser Generationsbruch ist zunächst (aber nicht allein) demographisch. Trotz einer Verlangsamung der jährlichen Geburtenrate (2,1 Prozent) hat die Bevölkerung während der letzten 20 Jahre um 12 Millionen Einwohnerinnen zugenommen und stieg von 31 auf 43 Millionen. 2019 waren 54 Prozent der Bevölkerung jünger als 30 und 87 Prozent sind nach der Unabhängigkeit geboren. Die über Sechzigjährigen repräsentieren nur 9 Prozent der Bevölkerung.

Bis Ende der Sechzigerjahre noch hauptsächlich ländlich geprägt, wurde die Verstädterung in Algerien prägend für die schnelle Transformation der Gesellschaft. Heute leben 70 Prozent der Bevölkerung (das sind 30 Millionen) in einem städtischen Milieu innerhalb eines Netzwerks von immer dichter besiedelten Städten: 60 Städte haben mehr als 100.000 Einwohnerinnen; Algier, Oran und Konstantine sind Millionenstädte. Diese starke Verstädterung stellte hergebrachte Lebensformen in Frage und erzeugte Spannungen wie eine Wohnungskrise, neue Formen sozialer Beziehungen, neue Formen von Ungleichheit, aber auch neue Hoffnungen und Forderungen.

Mit diesen Veränderungen der Lebensumstände ist auch die Evolution der Familienstruktur bemerkenswert. Die Haushalte werden kleiner (sie bestehen im Durchschnitt aus 5 Personen in den Großstädten). Das Heiratsalter hat sich aufgrund der Verlängerung der Schulzeit und dem Anstieg der Studierenden erhöht (26 Jahre bei den Frauen und 30 bei den Männern). Vor allem können die Lebenspartner nun frei gewählt werden, was Ausdruck einer Individualisierung ist, in der das Individuum sich von der Gemeinschaft emanzipiert.

Das Auftreten der Frauen im öffentlichen Raum spiegelt ebenfalls die paradoxen Mutationen einer Gesellschaft wieder, die noch sehr patriarchal geprägt ist. Auch wenn die meisten Frauen noch auf Hausarbeit beschränkt sind und sie nur 17 Prozent der Berufstätigen repräsentieren, behaupten sie sich vor allem in den Bereichen, die von Veränderung geprägt sind, in denen sie eine relative Autonomie und einen legitimen Platz erobern. Sie stellten heute zwei Drittel (65 Prozent) der Studierenden und behaupten sich mehr und mehr in den qualifizierten Berufen. In den intellektuellen und wissenschaftlichen Berufen sind Frauen mit 49 Prozent vertreten, mit 32 Prozent bei den Angestellten und Selbstständigen.

Die Verallgemeinerung der Bildung und die anwachsende Zahl an Studierenden hat Auswirkungen auf die Beziehungen untereinander. Diese neue Generation unterhält eine andere Beziehung zur Welt, eine Auswirkung der Globalisierung und der Öffnung auf andere Horizonte, die die offiziellen Medien und Kommuniques vernachlässigen zugunsten der sozialen Medien, den wichtigsten Kommunikationsmitteln des Hirak.  

Hin zu einer säkularisierten Gesellschaft

Der Hirak zeigt dieses neue Algerien. Ein Algerien, das sich immer weniger in einer oft verstümmelten nationalen Erzählung erkennt, die nicht wirklich Sinn ergibt für eine Bevölkerung, von der 87 Prozent nach der Unabhängigkeit geboren ist. Das symbolische Universum dieser Generation entspricht nicht mehr dem, was FLN und ALN (die Armee der nationalen Befreiung) dazu diente, den Sozialpakt zu etablieren und die Gesellschaft zu kontrollieren. Der großen nationalen Erzählung, die auf der Schuld gegenüber den Befreiern basiert, ist die Luft ausgegangen. Der Slogan einer neuen Unabhängigkeit, der häufig auf den Demonstrationen gerufen wird, ist das, wonach die Bevölkerung strebt. Diese neue historische Zeitlichkeit, die durch den Hirak eröffnet wurde, ermöglicht auch, mit dieser „Kultur der Gewalt“ zu brechen, die vom Befreiungskrieg geerbt wurde, alle sozialen und politischen Bewegungen seit 1962 charakterisiert hat und während derer der städtische Aufstand zum einzig möglichen Ausdrucksmittel wurde.

Der Hirak markiert den Übergang von einer Gesellschaft, die mit dem kommunitären Mythos des neopatrimonialen Systems weiterlebte, zu einer verfassungsgebenden Gesellschaft. Dieser Generationsbruch kündet von einer Zivilgesellschaft, die vom Joch der patrimonialen Ordnung befreit ist. Aber dieser Bruch vollzieht sich auf paradoxe Art und Weise, und das religiöse Phänomen ist seine Illustration. Nach dem schwarzen Jahrzehnt, unter Einfluss der salafistischen Ideologie, erlebte Algerien einen Prozess der Reislamisierung (einer Neuinterpretation der religiösen Praxis), dessen sichtbarste Zeichen das Tragen des Hidschab ist, der Wildwuchs von Moscheen und der allgemeine Rückriff auf religiöse Referenzen im Alltag. Aber diese verschiedenen Elemente ähneln eher einer Orthopraxie (man passt sich den Ritualen an) als an eine Orthodoxie (dem strengen Glauben). Diese Islamisierung des Alltags wird von weltweiten Massenkonsummoden begleitet, die mit der Praxis eines rigorosen Islam kontrastieren. Die Eröffnung von großen Einkaufszentren in den Städten, den neuen Tempeln des weltweiten Konsums, bietet gemischte Räume, was es in Algerien noch nie gab. Was den Hidschab betrifft, so impliziert sein Tragen deshalb noch nicht die Unsichtbarkeit der Frauen im öffentlichen Raum. Zahlreiche Frauen tragen ihn aus gesellschaftlichem Konformismus, statt religiösen Regeln zu folgen, und beschränken seinen Gebrauch auf das Kopftuch.

Die Islamisierung der moralischen Referenzen ist real; das Gute und das Böse werden immer auf Gott zurückgeführt und auf den Respekt des Koran. Aber gleichzeitig gibt es eine Banalisierung des Religiösen, die aus dem politischen Feld ausbricht. Das hat der Hirak deutlich gemacht.

Fazit: Das zweite Jahr des Hirak

Der Hirak hat sich tief und dauerhaft in die algerische Gesellschaft eingeschrieben. Mit seinen wöchentlichen Demonstrationen hat er sich den öffentlichen Raum angeeignet, ihn für den demokratischen Dialog geöffnet und die Natur der Herrschaft entblößt, die das Land regiert.

Jeder Freitag wird ein Moment kollektiver Kreativität, einer fröhlichen Revolution, in der sich eine festliche Dimension und offensive Forderungen kombinieren. Spruchbänder, Transparente, Forderungen werden in den sozialen Medien ausgetauscht und jede Woche je nach Entwicklung der politischen Situation aktualisiert. Sie fokussieren sich alle auf zwei große Aspekte: den Pazifismus (mit der Forderung Silmyia) und die entschlossene Einforderung eines Rechtsstaates („für einen zivilen und keinen Militärstaat“): „Keine Generäle“, „Wir wollen die Unabhängigkeit“). Das Berber-Emblem wird mit der Nationalfahne geschwungen, die die Demonstrantinnen sich umlegen, um ihre Verbundenheit mit Algerien zu zeigen, die lange Zeit durch den Panarabismus der FLN verborgen blieb. Wenn wiederholt gerufen wird: „Wir wollen die Unabhängigkeit“, vor allem am 5. Juli, dem Nationalfeiertag, kritisiert die Bevölkerung damit die Beschlagnahmung der Unabhängigkeit und die Verbindung der Macht mit den multinationalen Konzernen. Aber noch mehr als das wird deutlich, dass diese Bewegung die Emanzipation der Gesellschaft fordert und jegliche Bevormundung ablehnt.

Wenn das neopatrimoniale Regime in den Ruin führt, muss auch eine politische Alternative entwickelt werden. Die Widerstandsfähigkeit der Macht beruht zum großen Teil auf dieser fehlenden Alternative. Ihre Strategie ist nicht neu. Ihre Funktionsweise basiert auf dem Austausch des Leitungspersonals. Nachdem die Armee die Dinge in die Hand nahm, übergab sie die Macht an ein ziviles Personal, damit beauftragt, oberflächliche Reformen umzusetzen, ohne dabei die Natur des Systems zu verändern. Die Präsidentschaftswahl, an der sich offiziell 39 Prozent beteiligten (mit 35 Prozent  abgegebenen Stimmen), bestätigt die schwache soziale Basis, über die die Macht verfügt. Eher ernannter als gewählter Präsident (nach sehr zweifelhaften offiziellen Angaben bekam er nur 58 Prozent der abgegebenen Stimmen, was 20 Prozent der Wählerschaft entspricht), verfügt Abdelmadjid Tebboune über keinerlei Legitimität. Es ist symptomatisch, dass der neue Präsident in seiner ersten öffentlichen Rede nach der Wahl vom 12. Dezember 2019, als Trumpf für die Belebung der Wirtschaft den Abbau des Schiefergases aus der Tasche zieht, wovon Algerien über enorme Ressourcen verfügt. Diese Ankündigung antwortet auf eine Eingabe der multinationalen Konzerne und zeigt, dass die Grundlagen dieser Macht dieselben sind: die Verwaltung der Rente der Energieressourcen.

Eine tiefgreifende Bewegung arbeitet im Inneren der Gesellschaft und wird sicherlich alternative Lösungen hervorbringen. Die Umgestaltung des politischen Feldes ist am Laufen und der Hirak beginnt Erfahrungen zu sammeln. Der Rechtsstaat ist seine absolute Priorität und das verbindende Ziel des Hirak. Die gewaltige Welle, die ihn trägt, weist darauf hin, dass Algerien sich verändern wird.