» ... das Fernziel muss sich in jedem Nahziel kenntlich machen, eben sowohl damit das Fernziel nicht leer, abstrakt, unvermittelt sei, wie damit das Nahziel nicht blind, opportunistisch, in den Tag hineinlebend sei.« (Ernst Bloch)
So wie die Welt ist, darf sie nicht bleiben. Sie kann es auch nicht. Bereits die Verwüstung des Planeten verhindert das. Aber welche Welt können wir wollen? Was tun, um sie zu erreichen? Was, um sie nicht gleich wieder zu verlieren – an äußere wie innere Konterrevolution? Stünde die kommende Revolution heute vor der Tür, wir könnten die Fragen, die sie uns stellen würde, nicht beantworten. Vor allem fielen die Antworten zu eng aus für die Größe der Welt. Der Kanon, aus dem die Linken schöpfen, ist noch immer zu sehr auf die mächtigen Traditionen begrenzt. Er muss im Interesse der nächsten Revolutionen erweitert werden. Die Geschichte des Kommunismus ist eine zersplitterte Geschichte – voller schmerzhafter Risse und hoffnungsvoller Anfänge. Es ist die Geschichte von Kommunismen. Historische wie zeitgenössische, vergessene und verdrängte, periphere und häretische. Ohne ihre unerhörten Ränder wird es keine globale Emanzipation geben. Es braucht ihre räumliche wie zeitliche Vielfalt, um die Fragen der Vergangenheit für die Zukunft zu beantworten. Eine der Schlüsselfragen der Linken lautet: »Wie hältst du‘s mit dem Staat?« Diejenigen, die wie die Bolschewiki die Staatsmacht eroberten, um den Staat abzuschaffen, entfesselten stattdessen seine Macht. Diejenigen, die wie die Sozialdemokratinnen den Staat von innen ändern wollten, wurden stattdessen von ihm geändert. Diejenigen, die wie viele Anarchistinnen, den Staat ignorieren wollten, wurden von ihm nicht ignoriert, sondern verfolgt und verhaftet. Werden diese Aporien auch von den aktuellen Erfahrungen bestätigt? Was lernen wir heute aus dem bolivarischen Versuch in Venezuela? Konnten räteähnliche Strukturen in Armenvierteln dem von Anfang existierenden Autoritarismus und Isolationismus des Projekts entgegen wirken? Erlaubt das regionale Rätesystem der EZLN in Chiapas, den Staat zu umgehen? Lässt sich ein lokales Modell überhaupt globalisieren? Aber auch die EZLN sichert bewaffnet die Demokratie ihrer Strukturen und nennt sich deshalb Armee. Denn Befreiungsversuchen wurde gestern und heute immer militärisch begegnet. Wie eine befreite Gesellschaft erreicht werden kann, entscheidet die Linke deshalb nicht allein. Selten geben die Herrschenden ihre Herrschaft freiwillig ab. Doch wenn die Konterrevolution das Eskalationsniveau vorgibt, dann heißt das für die Revolution: Sie muss sich verteidigen, ohne dabei ihre solidarischen Prinzipien aufzugeben. Die erste und einzige erfolgreiche Sklavinnenrevolution, jene von Haiti, begegnete der kolonialen Gewalt mit gnadenloser Gegenwehr. Sie siegte über die Napoleonischen Truppen. Doch die Befreiung von der Sklaverei führte nicht zur Befreiung vom kolonialen Kapitalismus. Durch Frankreichs bis heute fortgesetzten Ressourcenraub versinkt Haiti in Elend. Auch die algerische FLN ging mit äußerster Brutalität gegen Kolonialherren und deren Unterstützerinnen vor. Obwohl ihr Sieg politisch und nicht militärisch war, konnte sich das Land bis heute nicht von der Gewalt des Unabhängigkeitskriegs befreien. Salvador Allende, ein Freund Che Guevaras, wusste um die Eigendynamik von sozialrevolutionärer Gewalt – und wollte auf sie verzichten. Ganz ohne bewaffneten Arm und nur mit Wahlen und Parlament sollte der Sozialismus erreicht werden. Die Antikommunistinnen beeindruckte dieser bewusste Verzicht auf den Einsatz sozialrevolutionärer Gewalt nicht. In Chile richteten sie ein Blutbad an und errichteten eine neoliberale Militärdiktatur. So wird die Emanzipation von einer doppelten Gefahr bedroht: von ihrer äußeren Zerstörung und ihrer inneren Militarisierung. Aber vom wem soll die Emanzipation überhaupt ausgehen? Wer wäre das »revolutionäre Subjekt«? Die historischen Antworten reichen vom männlich-weißen Fabrikarbeiter über Frauen und Kolonisierte zu den Subalternen der Randgruppenstrategie. Die »Klasse« hat es als homogene nie gegeben. Der Minenarbeiter von Emile Zola in Germinal oder der Eisenbahner in der Resistance gegen den Nationalsozialismus sind lediglich Idealtypen, die Heldinnen der Pariser Commune waren eher Handwerkerinnen als Industriearbeiter. Ein Blick in den romantischen Antikapitalismus erweitert das Feld der Subjektivitäten und der historischen Bezugsfiguren der Kommunismen um Maschinenstürmer, Sozialrebellinnen, Verweigerer und Aussteigerinnen aller Art. Dies führt zum Verhältnis von Stadt und Land. Der traditionelle Marxismus betrachtete die Landbevölkerung selten als Bündnispartnerin, sondern bekämpfte sie – wie in der Russischen Revolution – eher als Gegnerin. Undogmatische Marxistinnen wie C. L. R. James oder José Carlos Mariateguí machten aus der Perspektive der Peripherie Vorschläge, wie sich Stadt und Land in kommunistischer Absicht versöhnen können. Diese Ansätze sind heute von neuer Relevanz angesichts des zur gesellschaftlichen Krise gewordenen ökologischen Bruchs, der rasanten Verstädterung und der globalen Organisierung von Bäuerinnen. Das kommunistische Versprechen auf eine bessere Zukunft basierte lange auf der beschleunigten Entwicklung der Produktivkräfte. Doch die kapitalistische Produktivkraftentwicklung macht nicht nur die Menschen zu Anhängseln der Maschinen, sondern vernutzt auch in radikaler Weise die Natur. Menschen und Natur dienen dem Kapitalismus einzig als Mittel der Kapitalakkumulation: Die instrumentelle Vernunft macht den gesamten Planeten zur Ware und treibt in kürzester Zeit das planetarische System an seine Grenzen. Angesichts der ökologischen Krisen muss eine kommunistische Gesellschaft das Dreiecksverhältnis zwischen Natur, Technik und Mensch neu kalibrieren, Versöhnung anstreben und danach fragen, wie die Natur in die Entfaltung der menschlichen Subjektivität eingedacht werden kann. Diese Versöhnung impliziert das Ende von Ausbeutung und Beherrschung der Menschen durch die Menschen. Die Produktion von Gütern und die Verteilung der notwendigen Arbeit sind demokratisch anhand einer solidarischen Bedürfnisstruktur zu organisieren. Dafür gab es bisher nur Ansätze - wie zum Beispiel in der jugoslawischen und algerischen Selbstverwaltung oder der Arbeiterinnenkontrolle zu Beginn der Russischen Revolution -, aber kein Modell, dem wir heute folgen könnten. Braucht es hierfür einen neuen Bezug auf das Gemeinsame? Auf Commons, Allmende, Ejidos? Sie scheiterten historisch immer wieder, indem sie unter den Pflug der (ursprünglichen) Akkumulation des Kapitals gerieten. Aber muss sich das heute genauso wiederholen? Und steht die Langsamkeit commonistischer Entscheidungsfindung der Dringlichkeit ökologischer Probleme entgegen? Werden die aktuellen Commons als Überlebensökonomie der Armen und ökonomisch »Überflüssigen« innerhalb des globalen Kapitalismus eingehegt oder sind sie Ansätze für eine zukünftige kommunistische Gesellschaft? In diesen Fragen reflektiert sich die Pluralität kommunistischer Ansätze ebenso wie das Unterliegen oder Scheitern der bisherigen Kommunismen. Sie erneut aufzuwerfen, erwächst nicht aus der Hoffnung, sie theoretisch beantworten zu können. Aber unabweisbar ist, dass sich an diesen Fragen auch alle zukünftigen Kommunismen abarbeiten werden. Zu ihrer Beantwortung braucht es den Blick in die räumliche wie zeitliche Peripherie. Die Suche nach den versprengten und vergessenen Erfahrungen geschieht im Interesse der kommenden Kommunismen. Die Geschichte der Zukunft ist eine Geschichte der Revolutionen, Reformen und Subversionen, eine Geschichte der Bewegungen und Parteien, der siegreichen wie niedergeschlagenen, der erfolgreichen wie gescheiterten. Sie wirft den heute Lebenden ein gewaltiges Puzzle vor die Füße, mit ebenso vielen Teilen wie Lücken. Es lässt sich nicht wieder zusammen fügen, sondern nur neu verfugen.
Februar – Juli 2018 nGbK / Berlin-Kreuzberg
Jour Fixe Initiative Berlin