Die Subversion des Mai 68
Die Ereignisse des Mai 68 in Frankreich waren die wichtigste antikapitalistische Revolte der Nachkriegszeit. Sie haben deutlich gemacht, dass die revolutionäre Theorie und Praxis nicht da wieder aufgenommen werden können, wo sie in den zwanziger Jahren unterbrochen wurden. Den Mai 68 heute zu denken, bedeutet, die alten Fetische nicht durch neue zu ersetzen. Ob der politische Generalstreik in Frankreich die letzte revolutionäre Revolte der Vergangenheit, ein utopischer Kommunismus oder gar der erste große Streik des 21.Jahrhunderts war, wird dann zur spannenden Frage, wenn die Ereignisse des Mai 68 eine Bedeutung für den aktuellen Krisenzustand erlangen. Die fröhliche und gnadenlose Guerilla gegen alle staatlichen Institutionen verabschiedete jegliche Form des Jakobinismus und kehrte zur marxistischen Idee der sozialen Revolution zurück, ohne deren Zwangsläufigkeit pedantisch zu behaupten. Der Kapitalismus wurde zum ersten Mal gemäß einem libidinösen und libertären Prinzip, d.h. von einem individualistischen Standpunkt aus, kritisiert. Das Ich-Ideal des Mai 68 war radikal, humorvoll, ironisch und subversiv. Es wehrte sich, die Theorie von der Praxis zu trennen, und könnte ein libertäres Vorbild für unsere melancholischen, verzweifelten, nihilistischen und pessimistischen Zeiten sein. Die Negativität des Mai besteht vielleicht darin, dass er auf halbem Wege stecken blieb. Denn nach 68 ignoriert man nicht mehr, dass Herrschaft nicht nur in einer konzentrierten, im Verschwinden begriffenen Form regiert. Ermöglicht der Mai 68 nach Auschwitz die Bedingungen des Widerstandes neu zu denken?