Sozialismus angesichts der Erinnerung an ein barbarisches Jahrhundert
Ende der siebziger Jahre begann man sich an die Ermordung der europäischen Judenheit zu erinnern. Dieses gleichzeitig späte und intensive Gedenken traf mit einer »Krise des Marxismus« zusammen. Diese politische und intellektuelle Krise begann mit dem Mai 1968 und endete mit der neoliberalen Restauration der neunziger Jahre, gefolgt vom Zusammenbruch der UdSSR. Die Revolution ist heute also inmitten einer Ruinenlandschaft zu denken, als Seiltanz auf einem gespannten Strick zwischen zwei Seiten: Auschwitz und Kolyma.
Auschwitz hat unsere Vorstellung der Welt und der Zivilisation verändert. Weder die Menschheit noch der Marxismus sind unbeschädigt daraus hervorgegangen. Diese simple Feststellung zeigt, dass die von Rosa Luxemburg am Vorabend des Ersten Weltkrieges formulierte Alternative - Sozialismus oder Barbarei - heute radikal umzuformulieren wäre: Die Barbarei ist keine die Zukunft bedrohende Gefahr mehr, sondern das wichtigste Merkmal unserer Epoche. Sie stellt nicht nur mehr eine Möglichkeit dar, sondern ein wesentlicher Bestandteil unserer Zivilisation.
Andererseits stellte im zwanzigsten Jahrhundert der Stalinismus die marxistische Diagnose über die Rolle des Proletariats als historisches Subjekt eines Befreiungsprozesses der ganzen Menschheit in Frage. In diesem Zusammenhang kann die Revolution nur noch als Utopie gedacht werden.