Nach dem Frühling kam der Herbst. Unter der Restauration autoritärer Herrschaft, Bürgerkriegen, Grenzenkrise und Islamismus scheinen die Hoffnungen der Arabischen Revolten verschüttet. Die globale Occupy-Bewegung prallte am harten Gehäuse der Herrschaft ab. Doch gegen das Narrativ des Scheiterns müssen die gemeinsamen Erfahrungen dieser Rebellionen in die Gegenwart gerettet werden. „Ihr repräsentiert uns nicht! Dies ist keine Demokratie!“ scholl es nicht nur über die Plätze Madrids. Von der vergessenen Grünen Revolution in Teheran – einer Vorgeschichte der Arabellion –über den Tahiri Platz bis zum Zucotti-Park, vom Placa de Sol, über Tel Aviv bis zum Gezi-Park war trotz aller gesellschaftlichen Differenzen die Forderung nach Demokratie das verbindende Element der Proteste. Nach 1968 entzündete sich wieder spontan und unvorhersehbar eine globale Bewegung von unten, ohne Zentrum, ohne legitimierte Führung, ohne einen Plan der Machteroberung. Die einen wollten die langjährigen Despoten zum Teufel jagen, die anderen stellen der ökonomischen und politischen Macht der Eliten die Forderung nach „realen“ demokratischen Verhältnissen entgegen: „We are the 99%“. Demokratie wurde wiederbelebt als Anspruch, dass eine Bevölkerung sich selbst regiert, also gemeinsam und direkt die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens übernimmt.
Seit der Krise des Fordismus hat der Neoliberalismus in einer „schleichenden Revolution“ die Sphäre des Politischen ausgehöhlt und durch das Konzept der Governance ersetzt. Er substituierte politische Entscheidungen durch ökonomische Rationalität, nach deren Prinzip noch der letzte Winkel der Gesellschaft und die kleinste Regung des Subjekts strukturiert sind. Im Governance-Konzept mit seinen ökonomischen Prinzipien von Effizienz, Rentabilität und Kosten-Nutzen-Rechnung wird die politische Substanz der Demokratie zugrunde gerichtet.
Der Schockzustand der Finanz- und Eurokrise ermöglichte einen weiteren Frontalangriff auf die verbliebenen Bestandteile der liberalen Demokratie. In Italien und Griechenland übernahmen technokratische Eliten die Politik. Institutionen wie IWF, Weltbank, Europäische Kommission und EZB, die nicht einmal formal demokratisch legitimiert sind, regieren ganze Gesellschaften im Interesse der globalen Gläubiger. Unter dem ideologischen Label „alternativlos“ wird Politik zunehmend als Exekution global-kapitalistischer Sachzwänge verstanden.
Heute zeigt sich immer deutlicher, dass das unsichtbare Band zwischen kapitalistischer Entwicklung und Demokratisierung der Gesellschaft nur temporärer Natur war. Der Sozialismus des 20. Jahrhunderts scheiterte an seinen eigenen Ansprüchen: ohne Demokratie kein Sozialismus! Der Kapitalismus dagegen kann sich sehr wohl in undemokratischen, despotischen und diktatorischen Formen entfalten.
Doch so berechtigt die Kritik am neoliberalen Abbau der Demokratie auch ist, so wichtig ist es, nicht bei dieser stehen zu bleiben. Das populäre Theorem der „Postdemokratie“ versteht die „goldenen Jahre“ des Fordismus nicht als räumliche und zeitliche Ausnahme der kapitalistischen Entwicklung, als einen Klassenkompromiss vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs, sondern verklärt sie zur höchsten Entwicklungsstufe der Demokratie. Die Voraussetzung von Errungenschaften wie größere Verteilungsgerechtigkeit und Ausweitung formaler demokratischer Rechte war ein bevormundender Sozialstaat, die absolute Eingliederung des Individuums, unbezahlte Reproduktionsarbeit und neokoloniale Ausbeutung.
Die Ablehnung der liberalen Demokratie durch wachsende rechtspopulistische und faschistische Bewegungen (FN, AFD, Morgenröte, u. a.), in der die Rückkehr zu einem vermeintlich „vorpolitischen“ Zustand mystischer Volksgemeinschaften propagiert wird, verpflichtet eine radikale Linke, den emanzipatorischen Gehalt der liberalen Demokratie anzuerkennen und damit auch als Errungenschaft zu verteidigen. Gleichzeitig muss sie die Grenzen liberaler Demokratie benennen, um die Demokratie über deren Grenzen hinaus zu radikalisieren.
In den globalen Revolten der letzten Jahre, in denen das Begehren nach Demokratie im Mittelpunkt stand, sind Ansätze einer „Revolutionierung der Demokratie“ (Daniel Bensaïd) erkennbar geworden. In den Laboratorien ‚direkter’, ‚präsentischer’ oder ‚liquider’ Demokratie wurde Repräsentation in Frage gestellt, unmittelbare Demokratie erprobt und das Feld des Politischen über das Staatliche hinaus ausgedehnt.
Das Kommunistische Manifest sieht in der Eroberung der politischen Macht und der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln die entscheidenden Hebel für die Emanzipation der Gesellschaft. In diesem Sinne wurde die Pariser Kommune als die Übernahme der staatlichen Macht durch die Gesellschaft verstanden. Die Kommunarden wagten das – wenn auch kurzlebige –Experiment, die Kontrolle über administrative und institutionelle Funktionen zu übernehmen, die normalerweise den traditionellen Eliten vorbehalten waren. Im linken Demokratieverständnis ist das angekündigte Absterben des Staates dazu bestimmt, die logischen Gegensätze der Repräsentation aufzulösen.
Wenn es dem Kapitalismus gelang, seine eigene Machtstruktur komplementär zur staatlichen Herrschaft zu bilden, müssen wir herausfinden, wie die demokratischen Rechte und Freiheiten die Gesellschaft und nicht nur den Staat revolutionieren können. Es geht uns nicht darum, die Errungenschaften der Nachkriegszeit zurückfordern, die der Neoliberalismus zerstört hat. Es geht uns nicht allein darum, soziale Netze zu flechten, die Märkte zu regulieren oder die starken Ungerechtigkeiten zu korrigieren. Um eine gesellschaftliche Autonomie sowohl gegenüber der staatlichen Macht wie auch gegenüber der Herrschaft des Kapitals geltend zu machen, müssen wir Demokratie nicht nur in den Lohnarbeitsverhältnissen einfordern, sondern in allen Lebensbereichen. Es geht darum, die sozialen Beziehungen aus den Verwertungszusammenhängen zu lösen. Das Streben nach und der Kampf für soziale Demokratie ist somit ein Kampf für den Ausstieg aus der Verwertungslogik. Die Abkoppelung von den Marktgesetzen ist Teil des Kampfes für soziale Demokratie und eine Voraussetzung für eine befreite Gesellschaft.
Der Frage nach den Beziehungen zwischen sozialen Bewegungen und politischer Repräsentation schließt sich der Frage nach den Beziehungen zwischen direkter und repräsentativer Demokratie an. Aufgrund der Globalisierung und Auflösung der politischen Räume verschärft sich die Gefahr bürokratischer Professionalisierung der Macht. Lassen sich Repräsentation und Delegation auf globaler Ebene ganz ausschließen? Oder ist es nötig, die Gewählten unter kollektive Kontrolle zu stellen und systematisch Gegenmächte zu organisieren? Erwarten wir die Ausdehnung von Asambleas, die Vernetzung lokaler Räte, transparente formale Organisationen oder die Durchsetzung direkter Mandate? Verlangen wir die Demokratisierung von Wahlen oder ihre Ersetzung durch Losverfahren? Bezeichnet wahre Demokratie die Macht derer, „die weder einen besonderen Anspruch auf ihre Ausübung noch eine spezifische Eignung dafür besitzen“ (Jaques Rancière)? Ist die Macht des demos die Macht der Mehrheit, des Konsens, oder „die Macht eines jeden“ (Kristin Ross)? Die Demokratie einer befreiten Gesellschaft wird sich nicht mehr nur auf lokaler und nationaler Ebene vollziehen, sondern auf kontinentaler oder gar globaler Ebene. Diese Erweiterung der politischen Bühne, auf der die Menschen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen, bedeutet, dass sich die Anzahl der Akteure erhöht und dass Entscheidungsfindungen verlangsamt werden müssen. Die Versöhnung von politischer und sozialer Demokratie braucht Zeit zur Information, zur Erforschung der Bedürfnisse und für Konflikte. Die Linke und mit ihr die Zukunft ist plural – oder sie ist nicht. Keine Demokratie ohne Kommunismus – kein Kommunismus ohne Demokratie! Aber welche Demokratie?