Die jour fixe initiative berlin stellt mit dieser Reihe Kunst und Ästhetik in den Mittelpunkt der Analyse, und fragt nach ihrem Potenzial zur Kritik der spätkapitalistischen Gesellschaften. Es macht den grundsätzlich widersprüchlichen Charakter von Kunst aus, zwar aus der gesellschaftlichen Totalität entstanden zu sein, und doch in der ästhetischen Erfahrung einen Raum zu eröffnen, der über diese hinausweist. An diese Tatsache knüpft sich bis heute die Hoffnung, dass ästhetische Erfahrung, indem sie die Alltagserfahrung der Individuen revolutioniert, auch zu einer Position führt, von der aus eine Kritik der Gesellschaft formulierbar wird.
Wie in den letzten vier Vortragsreihen (»Kritische Theorie und Poststrukturalismus« - »Theorie des Faschismus, Kritik der Gesellschaft« - »Wie wird man fremd?« - »Geschichte nach Auschwitz«) interessieren uns besonders die theoretischen Ansätze der Kritischen Theorie und des Poststrukturalismus. Beide Richtungen beschäftigen sich an prominenter Stelle mit ästhetischen Fragen. Die Vorträge dieser Reihe werden sich sowohl mit ästhetischer Theorie als auch mit konkreten künstlerischen Positionen auseinandersetzen.
Nach der Durchsetzung eines autonomen Kunstbereichs, der die Kunstwerke heteronomer Inanspruchnahme, den gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen, zumindest partiell entzieht, folgen eben diese wesentlich ihrem internen Reglement. Ästhetische Theorie, die an die emanzipatorischen Potenziale von Kunst erinnert und deren Fähigkeit zur Transzendenz des Bestehenden hervorhebt, ist sich zugleich darüber bewusst, dass Kunstwerke als Produkte gesellschaftlicher Arbeit auch deren Zwangsverhältnisse reflektieren. Die Kunst der Moderne ist für die Kritische Theorie ein Ergebnis der Teilung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit. Deshalb, so Adorno, sei die Kunst schuldig, denn sie sei die Kunst in einer Klassengesellschaft. Diese Schuldhaftigkeit veranlasste Adorno in der Ästhetischen Theorie eine radikale Trennung zwischen Kunst im allgemeinen und den einzelnen Kunstwerken vorzunehmen. Ästhetische Erfahrung sei immer partikular und konkret und als solche fähig, auch die (falsche) Totalität der gesellschaftlichen Institution Kunst zu überschreiten. »Denn die absolute Freiheit in der Kunst, stets noch einem Partikularen, gerät in Widerspruch zum perennierenden Stande von Unfreiheit im Ganzen«.
Bürgerliche Kultur lässt sich nach der Kritischen Theorie nicht rein auf ihre affirmative Funktion einer scheinhaften Versöhnung gesellschaftlicher Gegensätze reduzieren. Vielmehr stellt die Kunst - zu denken wäre an Benjamins These, dass sich im Kunstwerk die Stimme der Verlierer im Weltprozess formuliere - auch ein großes Reservoir an Protest gegen das gesellschaftliche Unglück dar. Doch wird sie, ebenso wenig wie die Kritik, die politische Praxis ersetzen können, denn »die Welt, die sie reflektiert, bleibt, was sie ist, weil sie von der Kunst bloß reflektiert wird.« (Theodor W. Adorno) Adorno und Horkheimer zogen eine Trennungslinie zwischen Vergnügen und Glück. Auch Kunst ist nicht Glück, sondern nur dessen Versprechen. Darin liegt ihr utopischer Charakter. Kunst ist der schuldige und instabile Ort eines individuellen und gesellschaftlichen Glücksversprechens.
Bei Benjamin rückt die, durch die neuen technischen Medien herbeigeführte, Veränderung der Kunst und der Rezeptionshaltung ins Zentrum des Interesses. Der Vorstellung des autonomen Kunstwerks und dessen auratischer Rezeption, die den Einzelnen von der gesellschaftlichen Praxis entfremde, setzt er eine, besonders beim Film zu beobachtende, zerstreute Rezeption entgegen, die er als distanzierte und kollektive begreift. Benjamin, bei dem die Massenkultur folglich eine Aufwertung erfahren hat, steht dadurch in Widerspruch zu Adorno, der die den massenkulturellen Produkten entsprechende Rezeptionshaltung wesentlich unter dem Begriff des Warenfetischismus analysierte und ihr jegliches emanzipatorische Potenzial absprach. Auch wenn man den Optimismus Benjamins in dieser Frage heute nicht mehr teilt, ist es in diesem Zusammenhang interessant, dass Benjamin die Rezeptionsproblematik nicht isoliert betrachtet, sondern innerhalb eines gesellschaftlichen Prozesses technischer Neuerungen situiert.
Der Poststrukturalismus geht davon aus, dass ein von der Sprache getrennter Denkprozess nicht existiert. Alles was als Gedanke oder Idee bezeichnet wird, sei ein linguistisches Ereignis. Somit kann das philosophische System nur ein Text und nicht die Wahrheit sein. Derrida zufolge beruht das Ästhetische auf Spiel und Zufall. Dahinter steckt der erkenntnistheoretische Zweifel, ob es denn möglich sei, die Gesellschaft als Ganzes noch zu erfassen und darzustellen. Diesen radikalen Zweifel hat jedoch nicht erst der Poststrukturalismus, sondern bereits die Moderne hervorgebracht. Was sich in der Kritischen Theorie bereits als Skepsis ausdrückt, wird im Poststrukturalismus als Abschied von der Totalität bewusst vollzogen.
Gilles Deleuze sieht in Kunstwerken eine politische Kritik von Herrschaftsbeziehungen. Ihn interessieren vor allem die Wahrnehmungsgewohnheiten, durch deren Veränderung er politisches Handeln ermöglichen will. Literatur könne eine ästhetische Opposition zu festgelegten Sprachverwendungen sein, die Deleuze als Ausdruck politischer Machtausübung interpretiert. Das antirepräsentative Denken ist eines seiner Leitmotive. Deleuzes schöpferische »Fluchtlinien« führen auf einem Feld ideologisch strukturierter Wahrnehmung den Kampf für eine bessere Gesellschaft. Literatur erweist sich bei Deleuze als kompensatorisches Gegenstück ungenügender Theorie.
Deleuze widmete eines seiner schönsten Bücher dem Werk von Marcel Proust: eine Fabel über die Suche nach dem überholten Wahrheitsbegriff der Moderne. Proust schuf eine ästhetische Wahrheit und beschrieb damit den Untergang einer Welt der Repräsentation, die die kapitalistischen Produktionsbedingungen übriggelassen hatte. Deleuze zufolge treffen in der Kunst die zwanghaften künstlerischen Produktionsbedingungen mit Kräften zusammen, die sich nicht unbedingt sofort erschließen. »Die Aufgabe der Malerei ist als Versuch definiert, Kräfte sichtbar zu machen, die nicht sichtbar sind. Ebenso bemüht sich die Musik darum, Kräfte hörbar zu machen, die nicht hörbar sind.«
Eine Vortragsreihe, die der Frage nachgeht, welches emanzipatorische Potenzial Kunst heute hat oder haben kann, muss zum einen den Dialog mit konkreten künstlerischen Positionen suchen. Sie muss sich jedoch auch fragen, unter welchen räumlichen und zeitlichen Bedingungen ein Diskurs über Kunst, innerhalb des Rahmens, den wir als »die Welt« bezeichnen, heute noch möglich ist. Dabei wäre auf die aktuelle Ästhetisierung aller gesellschaftlichen/politischen Bereiche einzugehen, als einem Zeichen der Zerstörung moderner Raum- und Zeiterfahrung. Was ist übrig geblieben von der Kunst, dem Schönen, der Wahrheit in der Kunst im Raum einer Welt, die kein Außen mehr kennt und in einer historischen Zeit, die vielmehr als deren Zerstörung zu fassen ist, wo die Erlösung, die Zukunft und die Hoffung in der Ästhetisierung zu verschwinden drohen. Angesichts dieser Entwicklung rückt das einzelne Kunstwerk als möglicher Referenzpunkt einer »anderen« Raum- und Zeiterfahrung ins Zentrum gesellschaftskritischen Interesses. Zugleich jedoch ist feststellbar, dass die Kunstproduzenten, als zumindest potenzielle, universelle Produzenten einer historischen Zeit, v. a. in zahlreichen Ländern der kapitalistischen Peripherie, einer verstärkten Verfolgung ausgesetzt sind. Es stellt sich hier die Frage nach neotraditionalistischen Reaktionen auf moderne Herausforderungen oder dem Überleben des Widerstands und der Beharrlichkeit des Anderen - entweder im Geheimen oder in der Opposition und im Widerstand.
Vielleicht muss man aber auch mit Perry Anderson Benjamins These, dass sich im Kunstwerk die Stimme der Verlierer im Weltprozess formuliere, ironisch wenden und die Hinwendung des westlichen Marxismus zur Ästhetik auf dessen historische Niederlagen zurückführen.